4.

Szulskis Einspänner lag wie gekentert im Wasser, das Verdeck nach unten, die Räder nach oben; von dem Pferde sah man nur dann und wann ein von den Wellen überschäumtes Stück Hinterteil, während die Schere, darin es eingespannt gewesen, wie ein Wahrzeichen aus dem Strom aufragte. Den Mantelsack hatten die Wellen an den Damm gespült, und nur von Szulski selbst ließ sich nichts entdecken.

»Er ist nach Kienitz hin weggeschwemmt«, sagte Schulze Woytasch. »Aber weit kann er nicht sein; die Brandung geht ja schräg gegen den Damm.«

Und dabei marschierte man truppweise weiter, von Gestrüpp zu Gestrüpp, und durchsuchte jede Stelle.

(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

 

 

Mario Furmaniak war in Oranienburg geboren worden, was er aber gern verschwieg, da es viele Mädchen wenig erotisch fanden, wenn sie erfuhren, dass ein potenzieller Lover aus Brandenburg kam. Er hatte in Berlin und einigen anderen Städten mit eifrigem Bemühen Biologie studiert und saß nun an seiner Dissertation, die der Frage galt, welche Chancen bestimmte Fischarten in märkischen Kanälen hatten. Da sein Professor großen Wert auf die empirische Forschung legte, musste Mario Furmaniak im Sommer 1998 durch Brandenburg ziehen und die Angel auswerfen. Dies tat er allerdings sehr ungern, denn stundenlang an einer öden Kanalböschung zu sitzen und zu warten, bis irgendein Stichling sich die Ehre gab anzubeißen, war nicht seine Sache. Dazu war er viel zu unruhig. Auch war es ihm peinlich, für einen echten Angler gehalten zu werden, galt doch diese Menschengruppe gemeinhin als treudeutsch und bieder. Um sich sozusagen emotional über Wasser zu halten, hatte er in seinem Rucksack stets seinen Laptop stecken und arbeitete, nachdem er die Ruten ausgelegt hatte, an kleineren Beiträgen für Fachzeitschriften. Im Augenblick saß er an einem Artikel über die Hechtreißer zu Wriezen, die um 1700 sogar eine eigene Zunft gebildet hatten. Ihren Namen hatten sie daher, dass sie den Fischern die gefangenen Hechte, die es damals massenhaft in der Oder und ihren Gewässern gab, abkauften und sie vom Rücken her spalteten, das heißt, aufrissen, ohne sie voll zu durchtrennen. Dann wurden die Tiere ausgenommen und eingesalzen und kamen in große Tonnen. Eine Tonne gerissener Hechte fasste im Allgemeinen drei Zentner. Betrüger mischten Quappen, Plötzen und Güster unter die Hechte.

Dies alles ging Mario Furmaniak durch den Kopf, als er kurz nach 6 Uhr morgens mit der S-Bahn in Oranienburg ankam. Er trug sein Rad hinunter auf den Bahnhofsvorplatz, schwang sich in den Sattel und fuhr ein Stückchen nach Norden, um dann nach rechts in die Bernauer Straße abzubiegen, für seine Großeltern die Königsallee, später zu DDR-Zeiten die Straße des Friedens. In einer ihrer Seitenstraßen war er aufgewachsen. Auch das verschwieg er seinen Kommilitonen, denn auf der linken Seite der Bernauer Straße erstreckte sich das Gelände des KZs Sachsenhausen. Damit mochte er nicht in Verbindung gebracht werden, auch wenn er zum Jahrgang 1974 gehörte.

Rechts von ihm breitete sich der Lehnitzsee aus, und an dessen nördlichem Ende begann der Oder-Havel-, früher Hohenzollernkanal. Zuerst führte dieser schnurgerade nach Norden, um dann hinter dem Grabowsee in sanftem Bogen die Richtung zu ändern und dem Osten, also der Oder, zuzustreben. An der Malzer Schleuse ging es nach einem kleinen Schlenker der Straße über einen anderen Kanal, den Malzer Kanal, hinweg, dann konnte Furmaniak auf den schmalen Fahrweg hoch über dem Kanal zurückkehren.

Eine junge Frau kam ihm entgegen, eine Joggerin. Er wich ihr aus und staunte, dass jemand so früh trainierte. Wahrscheinlich für den nächsten Berlin-Marathon.

Furmaniak war nur wenige 100 Meter geradelt, da bremste er abrupt, denn was er unten im Kanal sah, das … Er sprang ab, ließ sein Rad ins Gras fallen, holte sein Handy aus dem Rucksack und wählte die 110.

»Ja, guten Tag … Mario Furmaniak. Ich stehe hier am Oder-Havel-Kanal … Auf der Malzer Seite, gleich hinter der Schleuse … Und da ragt das Heck eines Autos aus dem Wasser … Sieht so aus, als ob da gerade einer reingefahren ist, reingefallen ist …«

 

*

 

Gunnar Schneeganß war gerade einmal 33 Jahre alt und hatte bereits eine sagenhafte Karriere hinter sich. Er kam aus einer total zerrütteten Familie. Sein Vater war Alkoholiker, andauernd arbeitslos und schlug, wenn ihn die große Wut überkam, auf alles ein, was in seiner Nähe war. Die Mutter hatte immer wieder in ein Frauenhaus flüchten müssen, mal mit ihm, mal ohne ihn, wenn ihn die Leute vom Jugendamt nicht gerade in ein Heim gesteckt hatten. Zudem hatte es Schneeganß in seinem Schöneberger Kiez als Deutscher ungemein schwer gehabt, zu groß war die Dominanz von Klassenkameraden nichtdeutscher Herkunft gewesen. Aber er hatte es geschafft, sich durchzuboxen, und war nach Abschluss der Hauptschule von der Polizei genommen worden, denn sein IQ lag weit über dem Durchschnitt, seine Allgemeinbildung war besser als die vieler Abiturienten, und sportlich war er auch. In allen seinen Stationen war er glänzend beurteilt worden, hatte sich von Besoldungsgruppe zu Besoldungsgruppe hochgearbeitet und sich durch seine Mitgliedschaft in der Polizeigewerkschaft und der SPD ein ansehnliches Netzwerk aufgebaut, sodass man ihn schließlich, nachdem er in der Abendschule das Abitur gemacht hatte, als Kommissarsanwärter zum Studium an die Fachhochschule schickte. Nach drei Jahren hatte er es geschafft, war nun Beamter des gehobenen Dienstes und zur Kripo gekommen.

Wie viele Aufsteiger neigte er dazu, sich für den Größten zu halten, für ein einzigartiges Exemplar der Gattung Homo sapiens, und bei jeder Handlung inszenierte er sich: immer schnoddrig, immer witzig, immer Alpha-Tier. Prächtig gestylt war er, gab ständig den Macho, wenn auch selbstironisch, und glaubte, ein legitimer Erbe des großen Ernst Gennat zu sein.

Gennat, 1880 in Plötzensee zur Welt gekommen, wo sein Vater Oberinspektor des Strafgefängnisses war, und 1939 in Berlin gestorben, galt als einer der erfolgreichsten Kriminalisten Deutschlands und war zur Legende geworden. Dazu hatte auch seine Körperfülle beigetragen, die zum großen Teil von seiner Liebe zu Buttercremetorte herrührte und ihm Spitznamen wie ›Der volle Ernst‹ oder ›Buddha der Kriminalisten‹ eingebracht hatte. War ein Täter nicht zu einem Geständnis zu bewegen, lud ihn Gennat zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Torte ein – und schon begann der Mann zu plaudern. Gennats größter Verdienst war der Aufbau einer zentralen Mordinspektion und die Einführung moderner Ermittlungsmethoden, und er arbeitete schon um 1930 als Profiler. Bald war er auch ein Medienstar und gab das Vorbild für den Kriminalkommissar Karl Lohmann in den Fritz-Lang-Filmen ›M – Eine Stadt sucht einen Mörder‹ und ›Das Testament des Dr. Mabuse‹ ab. Den Nazis stand er distanziert gegenüber. Seinem Sarg folgten 2.000 Berliner Kriminalbeamte.

An der Seite von Gunnar Schneeganß war meist Gisbert Hinz zu finden, ein früh ergrauter Kollege von 53 Jahren, der sehnlichst auf seine Pensionierung wartete. Um noch Kraft für die Zeit danach zu haben, versah er seinen Dienst nur im Schongang und nutzte jede Gelegenheit, sich krankschreiben zu lassen und zu Hause im Bett zu bleiben.

Die beiden saßen jetzt nebeneinander im Wagen und fuhren nach Oranienburg, um zu sehen, ob sie den Brandenburgern im Falle Schulz irgendwie helfen konnten. Ihre Führung, am Zusammenschluss der beiden Bundesländer interessiert, hatte es so gewollt, schließlich sei der vermisste Mann Berliner.

»Das Politische ist doch nur vordergründig«, sagte Schneeganß. »In Wirklichkeit traut man den Hinterwäldlern nicht zu, die Sache selbst aufzuklären.« Anhand der Autonummer war man schnell auf Siegfried Schulz gekommen, aber nun …?

»Aua!« Hinz presste seine rechte Hand auf die Gegend um den Bauchnabel. »Ich hab wieder so komische Stiche!«

»Das wird deine Gebärmutter sein«, sagte Schneeganß.

»Ich habe keine Gebärmutter.«

»Schade.«

Hinz sah ihn böse an. »Soll das heißen, dass ich schwul bin und mir eine wünschte?«

»Nein, aber dann hättest du noch ein Organ, wegen dem du dich krankschreiben lassen könntest. Auch der Brustkrebs fällt ja für dich flach.«

Hinz hatte es gelernt, mit solchem Spott zu leben. Das war eben der Preis, den er für seine Strategie zu zahlen hatte. »Das Arbeitsleben ist ein Marathonlauf, mein Lieber, und da kannst du nicht immer so sprinten wie bei einem 100-Meter-Lauf.«

Schneeganß lachte. »Doch, ich kann.«

»Bis du mal ’n Herzinfarkt hast.«

»Den kriegst du bestimmt nicht – als einer, der immer nur auf Standby geschaltet ist.« Schneeganß, der am Steuer saß, ärgerte sich, dass es ewig dauerte, durch Oranienburg hindurchzukommen. »Gott, diese Ampelschaltungen hier!«

Mit einer Viertelstunde Verspätung erreichten sie den Oder-Havel-Kanal und die Stelle, an der sich das Brandenburger Team schon versammelt hatte und zusah, wie Schulz’ Porsche gerade von einem mächtigen Kran geborgen wurde. Er hing mit der Kühlerhaube nach unten am Haken, und durch die aufgesprungenen Türen lief eine Unmenge Wasser. Jedes Mal, wenn der Kranführer ruckte, kam ein neuer Schwall.

Die Brandenburger Kollegen kamen herbei, um die Berliner zu begrüßen. Man stellte sich vor. Der Leiter des Brandenburger Teams hieß Mittmann.

»Ah, der berühmte Wolfgang Mittmann!«, rief Gisbert Hinz, der zwar Westberliner war, aber alles gelesen hatte, was Wolfgang Mittmann über die spektakulärsten Fälle der Volkspolizei geschrieben hatte.

»Nein, Juri Mittmann und mit dem Wolfgang Mittmann weder verwandt noch verschwägert.«

»Gagarin lässt grüßen«, sagte Schneeganß.

Mittmann lachte. »In der Tat. Ich bin Ende 1961 auf die Welt gekommen, und meine Eltern wollten auch einmal etwas für die deutsch-sowjetische Freundschaft getan haben.«

Nach diesem fröhlichen Warm-up kamen sie auf Siegfried Schulz zu sprechen. Die Frage, ob man den schon gefunden habe, musste Schneeganß gar nicht stellen, denn in diesem Augenblick watschelten zwei Polizeitaucher die Böschung hoch und meldeten, in der Nähe des in den Kanal gestürzten Autos keine Leiche gefunden zu haben.

»Komisch«, sagte Mittmann. »Die Strömung ist so schwach, dass er unmöglich weit abgetrieben sein kann.«

Schneeganß wies auf ein Schubschiff, das gerade aus Richtung der Schleuse Lehnitz kam. »Vielleicht hat er sich da irgendwie an einem Schiff verhakt und ist inzwischen schon sonst wo.«

Hinz gähnte. Die frische Landluft hatte ihn noch müder gemacht, als er ohnehin schon war. »Steht denn fest, dass er überhaupt in seinem Porsche gesessen hat, als er …«

Mittmann wusste es nicht. »Wir sind erst mal davon ausgegangen, aber … Erste Erkundigungen bei euch in Berlin haben ergeben, dass Schulz durchaus jemand war, der … Er soll viele Geschäfte mit Russen, Litauern und Rumänen gemacht haben, und da …«

»Nun hetz mal nicht so gegen die sozialistischen Bruderländer!«, rief Schneeganß.

»Augenzeugen gibt es keine?«, fragte Hinz.

Mittmann zeigte auf einen jungen Mann, der gerade dabei war, seine Angelruten zusammenzusetzen. »Der hat den Porsche im Kanal als Erster entdeckt. Ein Meeresbiologe …«

»Wo ist denn hier das Meer?«, fragte Schneeganß. »Du meinst den Lehnitzsee …?«

»Quatsch, ich hab mich versprochen: Ein Biologe, der untersuchen will, was es hier im Kanal für Fische gibt.«

»Na, vielleicht ist das ein gutes Omen, und uns geht ein dicker Fisch ins Netz«, sagte Hinz.

»Und der Kanalbiologe hat keinen Menschen in der Nähe gesehen, der Schulz eventuell …?«, wollte Schneeganß wissen.

»Nein.«

Inzwischen war der Porsche abgesetzt worden, und die Kriminaltechniker konnten einen ersten Blick ins Innere werfen.

»Nichts!«, mussten sie feststellen. »Jedenfalls auf den ersten Blick nichts, was auf einen vorangegangenen Kampf hindeuten würde.«

»Haben wir also drei Möglichkeiten«, sagte Mittmann. »Erstens einen Unfall, das heißt, Schulz hat im Wagen gesessen und ist in den Kanal gestürzt. Zweitens, eine vorgetäuschte Straftat, das heißt, Schulz hat den Wagen selber in den Kanal gelenkt, nachdem er vorher herausgesprungen ist.«

»Und warum sollte er das getan haben?«, fragte Schneeganß.

»Na, um im wahrsten Sinne des Wortes unterzutauchen, warum auch immer.«

»Okay, und drittens?«

»Man hat ihn entführt und den Wagen anschließend im Kanal versenken wollen.«

Ein Boot der Wasserpolizei kam heran, und der Kapitän rief ihnen zu, sie hätten ein Stückchen weiter Richtung Finow einen Hut und einen Mantel gefunden.

»Haben sich da im Gestrüpp verfangen. Vielleicht haben sie Schulz gehört.«

Mittmann bedankte sich. Man hatte schon ein Zeitungsfoto mit Siegfried Schulz gefaxt bekommen, und auf dem war er mit einem solchen Hut zu sehen gewesen.

»Das verhilft uns auch nicht zu sonderlich neuen Erkenntnissen«, stellte Schneeganß fest. »Ohne Leiche kein Mord und ohne Lösegeldforderung keine Entführung.«

»Und ohne Abschiedsbrief kein Selbstmord«, fügte Hinz hinzu. »Daran hat bisher gar keiner gedacht.«

Mittmann sah die beiden Berliner an. »Ich denke, wir kommen nur weiter, wenn ihr in Berlin das Umfeld von Schulz unter die Lupe nehmt.«

»Ach!«, rief Hinz. »Die Arbeit auf uns abwälzen!«

Schneeganß hingegen freute sich über Mittmanns Vorschlag, denn die Sache mit Schulz erschien ihm spektakulär genug, um damit in die Medien zu kommen und bei Freundinnen und Freunden Pluspunkte zu sammeln.

 

*

Für Schneeganß und Hinz war es naheliegend, zuerst mit Sandra Schulz, der Ehefrau des Vermissten, zu sprechen, doch die sollte erst am späten Nachmittag aus Mailand zurückkommen. Also fuhren sie von Oranienburg zur Firmenzentrale am Sachsendamm. Erst hatte Hinz ausgerufen »Mein Gott, nicht durch die ganze Stadt durch!«, dann aber hatte sich herausgestellt, dass sie über den Zubringer Oranienburg, die A 111 und die Berliner Stadtautobahn ganz feudal ans Ziel gelangen konnten.

Kurz vor der Ausfahrt telefonierte Hinz noch einmal per Handy mit den Brandenburgern. Die hatten inzwischen mit einer Reihe von Einheimischen gesprochen und konnten mit einiger Sicherheit sagen, dass der Porsche an diesem Freitag zwischen 5.30 Uhr und 6.15 Uhr in den Oder-Spree-Kanal gestürzt war. Jetzt war es 11.30 Uhr, und noch immer gab es keine Spur von Siegfried Schulz, auch war nirgendwo eine Forderung nach Lösegeld eingegangen. Der Geschäftspartner oben in Rostock hatte keine Erklärung für dessen Verschwinden.

Die beiden Kripobeamten rollten auf den Firmenparkplatz und hielten auf der weiß umrahmten Fläche, die für den Firmeninhaber reserviert war.

Hinz stieg aus, reckte sich und stöhnte. »Au, meine Bandscheibe! Das lange Sitzen im Auto, wenn das mal nicht wieder ein Vorfall wird.«

Schneeganß konnte nicht sofort antworten, denn vor ihnen stolzierte eine jener Blondinen, über die zahllose Witze kursierten. Sie gab sich alle Mühe, mit ihren High Heels nicht umzuknicken. Offensichtlich war sie dabei, eine Reihe von Umlaufmappen von A nach B zu transportieren.

»Wenn dir der Hintere vom Sitzen wehtut, so ist es von jetzt an bei mir der Vordere vom Stehen«, sagte Schneeganß.

»Wie?« Hinz konnte ihm nicht folgen.

»Ach, lass nur, das ist etwas, was du nicht mehr kennst.«

Hinz gähnte. »Ich will nur eins: ins Bett.«

»Ich auch«, erwiderte Schneeganß und machte sich an die Verfolgung der Blondine, die ihn entfernt an Sharon Stone erinnerte. »Sorry, sind wir hier richtig beim Casting?«

»Wieso?« Die Blondine blieb stehen.

»Na, weil du doch hier bist.«

»Ich arbeite hier.«

»Beim Film?«, fragte Schneeganß.

»Nein, bei Auto-Schulz.«

»Du könntest aber auch beim Film sein. Du in einer Lovestory – und sie hätten eine Einschaltquote von 130 Prozent.«

Die Blondine grinste. »Und du willst mich also zum Film bringen …?«

»Was meinst du, wen ich schon alles wohin gebracht habe?«, fragte Schneeganß zurück.

»Hast du ’n Bestattungsunternehmen?«

»Ja, und ich suche noch ’n Model für Totenhemden.«

Hinz missfiel das Geplänkel der beiden, und er platzte damit heraus, dass sie von der Kripo seien. »Und wir sind hier, weil Ihr Chef verschwunden ist.«

»Endlich!«, rief die junge Dame.

»Wieso endlich?«, fragte Schneeganß.

»Weil alle unter ihm gelitten haben.«

Wieder grinste Schneeganß. »Wirklich unter ihm …?«

»Einige wohl schon, ich nicht.«

»Und keiner ist zur Polizei gegangen?«, fragte Hinz.

»Keine«, korrigierte ihn Schneeganß.

»Nein, was tut man heute nicht alles, um seinen Arbeitsplatz zu behalten. Und es war ja alles freiwillig, und Schulz hat sich nie lumpen lassen.«

»Aber er war doch verheiratet«, kam der Einwand von Hinz.

»Na und?«, erwiderte die Blondine. »Aber mal im Ernst: Was ist denn mit Herrn Schulz?«

»Das möchten wir ja gerne von euch wissen. Sein Porsche hat oben bei Oranienburg im Oder-Havel-Kanal gesteckt – aber leer, und von Schulz keine Spur. Vielleicht ist er bei einem Unfall ertrunken, vielleicht ist er entführt worden, vielleicht hat ihn jemand ermordet, die Leiche irgendwo entsorgt und den Wagen dann im Kanal versenkt – keiner weiß es. Wenn es ein Mord gewesen sein sollte, kannst du dir denn vorstellen, dass ihn in der Firma einer … eine so gehasst haben könnte, dass er oder sie …?«

Die junge Dame sah sich nach allen Seiten um, ob auch keiner mithören konnte. »Da kenne ich mindestens ein Dutzend, die gesagt haben: Den bringe ich noch mal um!«

Hinz winkte ab. »Das machen täglich Hunderte, das ist reine Aggressionsabfuhr und dient der psychischen Hygiene.«

»Namen wollen Sie nicht nennen?« Schneeganß hatte sich nun doch entschlossen, die Schöne zu siezen, um das Amtliche ihres Besuches deutlich werden zu lassen.

»Nein, wenn Herr Schulz wieder auftauchen sollte und dann …«

»Verstehe«, sagte Schneeganß. »Und wen können wir denn fragen, der nicht so ’ne Angst haben muss.«

»Na, am besten den Thorsten Rönnefahrt, das ist der Leiter von der Datenverarbeitung und der Liebling von Schulz.«

Schneeganß und Hinz bedankten sich und machten sich auf den Weg in Rönnefahrts Büro, das aussah wie die Behausung eines Messies, der auf das Sammeln von elektronischem Krimskrams spezialisiert war.

»Wir hätten Sie mal kurz gesprochen«, sagte Schneeganß.

Rönnefahrt starrte auf seinen Bildschirm und fand keine Sekunde Zeit, seinen Kopf zur Tür zu drehen. »Können Sie mir nicht ’ne Mail schicken …?«

Schneeganß konnte Typen wie ihn nicht ausstehen. So liederlich, um nicht zu sagen verkommen, sahen die linken Zecken aus, die Häuser besetzten und um den 1. Mai herum für Randale sorgten. Und Rönnefahrt war der typische Hacker, einer, der die Gesellschaft ärgerte, indem er Viren und Trojaner ins Netz schickte. Für Schneeganß war alles, was sie machten, höchst zwielichtig. Alles, was sich nicht kontrollieren ließ, erregte von vornherein seinen Verdacht und war Grund für ihn, sich zu ärgern.

»Sie haben schon gehört, dass Ihr Chef seit heute früh verschwunden ist?«, begann Schneeganß.

»Ja, im Radio.« Rönnefahrt schien das Ganze nicht sonderlich aufzuregen. Er schwieg und wischte mit einem Tempotaschentuch den Staub von seinem Bildschirm.

 »Haben Sie eine Idee, was mit ihm geschehen sein könnte?«, fragte Hinz.

»Nein.«

Schneeganß fixierte ihn. »Und dies als sein ganz besonderer Vertrauter?«

»Woher wissen Sie das?«

»Man hat so seine Quellen«, antwortete Schneeganß und wurde mit einem Schlag energisch. »Und Sie gucken uns bitte mal an, wenn wir mit Ihnen reden, sonst … Kriminalpolizei, die Mordkommission.«

»Die Mordkommission … Dann ist Schulz also …?« Rönnefahrt sah sich die hingehaltene Marke an, zeigte sich aber ansonsten wenig beeindruckt. »Was ist denn das für ’n Film hier? Meinen Sie, Schulz hätte mir vorher verraten, wo man seine Leiche entsorgen wird?«

Schneeganß fand diesen Ton nicht schlecht und stieg darauf ein. »Und warum hat er Ihnen das nicht gesagt, er wusste doch, dass er heute Morgen umgebracht wird – oder nicht?«

»Er hatte zu viele Feinde, um den Überblick zu behalten.« Rönnefahrt tat so, als würde er sie an den Fingern abzählen wollen und musste die zweite Hand zur Hilfe nehmen. »Aber das sind doch alles Schwächlinge, die denken so etwas zwar pausenlos, tun es aber nie. Nein, im Ernst: Herr Schulz hatte nie Angst, ermordet zu werden, er fühlte sich völlig unangreifbar. Aus seinem Umfeld war es unter Garantie keiner.«

»Und an Selbstmord hat er nie gedacht?«, fragte Hinz.

»Völlig ausgeschlossen«, erklärte Rönnefahrt.

»Und ein Unfall?«, fragte Schneeganß. »War er ein guter Autofahrer?«

»Ein sehr guter sogar. In seiner Jugend ist er Rallyes gefahren.«

Schneeganß stieß die Luft aus den Lungen. »Gut, aber wie kann es dann geschehen, dass er mit seinem Porsche in den Kanal stürzt? Was hat er überhaupt in Malz verloren, wenn er auf der B 96 an die Ostsee will, so abseits gelegen, wie das ist …?«

Rönnefahrt zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nur eine logische Antwort: Er hat sich in Malz am Kanal heimlich mit jemandem treffen wollen.«

Schneeganß nickte. »Wenn er freiwillig dort hingekommen ist, könnte das eine Möglichkeit sein – aber mit wem?«

»Keine Ahnung. Sicher mit keinem aus der Firma.«

»Gut, dann bedanken wir uns erst mal bei Ihnen«, sagte Schneeganß. »Und falls Ihnen noch etwas einfallen sollte …« Er legte Rönnefahrt sein Kärtchen auf den Schreibtisch. »Und wie wird es bei Ihnen in der Firma weitergehen?«

»Ich nehme an, Frau Schulz wird die Zügel in die Hand nehmen.«

Schneeganß ließ die Türklinke, die er eben nach unten gedrückt hatte, noch einmal los. »Ah, ja … Wie standen denn die beiden zueinander?«

Rönnefahrt zögerte ein wenig, um dann mit Nachdruck zu erklären, dass die Ehe hundertprozentig intakt sei.

Schneeganß ahnte, dass ihm der andere etwas verschwiegen hatte, etwas, das Sandra Schulz betraf. Sollte Schulz nicht mehr auftauchen, war sie seine Chefin, und er wollte nicht gefeuert werden.

Als sie wieder auf dem Parkplatz standen, sah Schneeganß seinen Kollegen an: »Sag mal, Gisbert, was kann man in einer mittelständischen Firma wie der von Schulz wohl zu verbergen haben?«

Hinz nieste kräftig. »Wahrscheinlich eine Allergie.«

»Wieso soll man eine Allergie verbergen wollen?«

»Nein, meine Allergie«, erklärte ihm Hinz. »Beifuß.«

Schneeganß rang die Hände. »Hast du nicht bemerkt, wie dieser Rönnefahrt ins Schwimmen gekommen ist, als ich ihn nach der Beziehung zwischen Schulz und dessen Frau gefragt habe …?«

Hinz schnäuzte sich umständlich. »Doch, habe ich. Scheint so, als hätte einer von beiden ein Verhältnis, Schulz mit einer Frau oder sie mit einem anderen.«

»So ist es, und darum freue ich mich schon auf das Gespräch mit Sandra Schulz.« Schneeganß schloss die Tür ihres Dienstwagens auf. »Wie kommen wir denn am besten zum Sandwerder, du bist doch alter Berliner …?«

Hinz gähnte anhaltend und klagte dann über ein unerklärliches Ziehen im linken Oberkiefer. »Ich glaube, unter meiner Krone fault mir der Zahn weg. Wie wir nach Wannsee kommen …? Tja, entweder auf der Stadtautobahn bis Halensee und dann auf der Avus runter nach Wannsee oder Sachsendamm auf die A 103, auf der bis Rathaus Steglitz und dann weiter auf der Route Unter den Eichen, Potsdamer Chaussee …«

»Und was ist besser?«

Hinz stöhnte. »Keine Ahnung. Man müsste es ausprobieren. Mit zwei Wagen, der eine fährt so rum und der andere anders rum, und dann sehen wir, wer zuerst da ist.«

»Und wo bekommen wir den zweiten Wagen her?«, fragte Schneeganß.

»Vielleicht leiht uns Auto-Schulz einen …«

Langsam wurde Schneeganß ungeduldig. »Nun komm schon, wir fahren über die Avus, nur Autobahn ist mir lieber als die Strecke mit den hundert Ampeln.«

 

*

 

Als sie die Villa am Wannsee erreicht hatten, war Hinz so müde, dass er meinte, ohne einen kleinen Spaziergang am Wasser nicht einsatzfähig zu sein.

»Okay«, sagte Schneeganß. »Und wenn wir Glück haben, wird gerade Schulz’ Leiche angeschwemmt.«

Nachdem sie sich eine gute halbe Stunde lang erholt hatten, klingelten sie. Ein Namensschild gab es nicht, man musste die Hausnummer kennen. Sie warteten. Offenbar galt es als vornehm, nicht zur Gegensprechanlage zu rennen, sondern Besucher ein wenig warten zu lassen. Endlich knackte und rauschte es.

»Die Herren von der Kripo?«, kam es von oben herab.

»Ja …« Schneeganß staunte. Offenbar schienen die Buschtrommeln gut zu funktionieren. »Woher wissen Sie das?«

»Ich sehe Sie auf dem Bildschirm hier.«

Schneeganß blickte sich um, konnte aber keine Videokamera erkennen. Wahrscheinlich steckte sie in dem Nistkasten, der zehn Meter von ihnen entfernt am Stamm einer Birke hing.

»Kommen Sie …«

Ein Summer ertönte, die Tür sprang auf. Während sie den Weg zum Haus entlanggingen, erschien oben im Hauseingang eine mondäne junge Frau, von der Schneeganß sofort annahm, dass es Schulz’ Geliebte war. Seine Ehefrau stellte er sich als 50-jährige Matrone vor.

»Wir hätten gern Frau Schulz gesprochen«, sagte Hinz.

»Das bin ich höchstpersönlich.« Die vermeintliche Geliebte grinste.

Schneeganß kam gegen seine Impulse nicht an und sah sich sofort mit Sandra Schulz in seiner Lieblingsstellung koitieren: wie sie, nur den Slip ausgezogen und das Kleid hochgeschoben, auf ihm kniete und zu einem wilden Ritt ansetzte.

»Sie kommen wegen meinem Mann?«, fragte Sandra Schulz.

»Wegen Ihres Mannes, ja.« Schneeganß war derart befangen, dass er nicht anders konnte, als den Oberlehrer zu spielen. »Hat er sich inzwischen bei Ihnen gemeldet?«

»Nein. Aber kommen Sie erst einmal rein …«

Sie führte die beiden Kriminalbeamten in ein Wohnzimmer, wie es andere Menschen nur im Film zu sehen bekamen. Aber das war ja das Schöne an ihrem Beruf, dass sie so etwas auch in Wirklichkeit erleben durften. Schneeganß wusste das zu schätzen und freute sich über jeden Mord im Bereich der Upperclass. Aber noch stand nicht fest, dass Schulz ermordet worden war, obwohl sein Gefühl ihm sagte, dass es so war.

»Möchten die Herren etwas trinken?«, fragte Sandra Schulz.

»Wir sind im Dienst«, antwortete Schneeganß. »Auch Trinkgelder dürfen wir nicht annehmen.«

»Ich meinte nur ein Wasser.«

»Mit Wasser, damit kochen wir nur.« Bei schönen Frauen wie ihr bemühte sich Schneeganß immer, so witzig zu sein, wie es die Männer in Hollywood-Komödien sein wollten.

»Das klingt ja nicht sehr hoffnungsvoll …« Sandra Schulz setzte sich an den Wohnzimmertisch, dessen Ausmaße das Wort Tafel rechtfertigten, und bat die Beamten, ihr gegenüber Platz zu nehmen. »Er ist also mit seinem Wagen bei Oranienburg in einen Kanal gestürzt und wahrscheinlich ertrunken …?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Schneeganß referierte ihren bisherigen Erkenntnisstand. »Und nun erhoffen wir uns von Ihnen Auskünfte, die uns und die Brandenburger Kollegen weiterbringen können.«

»Wer könnte ein Motiv gehabt haben, ihn …?«, fragte Hinz.

Sandra Schulz spielte mit einem herumliegenden Radiergummi. Offensichtlich hatte sie Kreuzworträtsel gelöst und dabei nicht immer auf Anhieb das richtige Wort gefunden. »Feinde hat er genügend gehabt, aber dass einer gleich …«

»Dasselbe haben wir schon in der Firma gehört«, sagte Schneeganß.

»Also wird es doch nur ein Unfall gewesen sein …« Sandra Schulz starrte dabei auf ihr Rätselheft. »Berliner Kriminalschriftsteller mit drei Buchstaben. Das müssten Sie doch wissen.«

»Eik«, sagte Schneeganß. »Jan Eik, eigentlich Helmut Eikermann.«

»Gut, sehr gut.« Sandra Schulz freute sich und vervollständigte ihr Kreuzworträtsel. »Was werden Sie weiterhin unternehmen, um meinen Mann …?«

»Das Motiv ist das A und O«, sagte Hinz.

Sandra Schulz sah ihn fragend an. »Was für ein Motiv: Ein Motiv für ihn, seinen Porsche im Oder-Havel-Kanal zu versenken und abzutauchen, oder das Motiv für XY, ihn umzubringen?«

»Beides, würde ich sagen.«

Sie legte ihren Druckbleistift beiseite und überlegte. »Fangen wir mit dem Abtauchen an: Steuerschulden? Hatte er keine, soweit ich weiß. Schwierigkeiten mit der Russenmafia, einer libanesischen Großfamilie oder wem auch immer? Nein, da wird keiner einen Killer losschicken, so lieb, wie sie sich alle haben. Und einer seiner Feinde, XY also …? Auch Fehlanzeige, da kann ich mir nicht vorstellen, dass einer wirklich zugeschlagen hätte.«

Schneeganß wagte den Schmetterball ohne lange Vorbereitung. »Und einer Ihrer Liebhaber, Frau Schulz?«

Sie lachte. »Von denen weiß er nichts, unter Garantie nicht.«

»Sie geben aber zu, welche zu haben?«

»Ich gebe gar nichts zu, siehe Datenschutz.«

»Es geht hier um Mord«, erklärte Hinz.

»Wer sagt Ihnen denn, dass es sich um Mord handelt?«, fragte sie. »Wenn wir wissen, dass Siegfried wirklich ermordet worden ist, können wir weitersehen.«

Schneeganß wusste, dass sie das akzeptieren mussten. Was blieb ihnen also übrig, als kleinere Brötchen zu backen und sich damit zu begnügen, herauszufinden, was Schulz gestern alles gemacht hatte und wo er überall gewesen war.

»Sie waren zwar in Mailand, Frau Schulz, können uns aber sicher sagen, wann Ihr Mann heute Morgen von hier aus in Richtung Ostsee aufgebrochen ist und ob er womöglich jemanden mitgenommen hat.«

»Wen er mitgenommen hat, weiß ich nicht, aber er ist gar nicht von hier aus losgefahren, sondern hat vorher bei seinem Neffen in Frohnau übernachtet. Den wollte er schon lange mal treffen, und da hat sich das so ergeben, weil das direkt auf dem Weg nach Rostock liegt. Brauchte er erst eine Dreiviertelstunde später aufstehen.«

»Das ist ja interessant«, sagte Hinz. »Wenn Sie uns bitte die Adresse geben könnten.«

Sandra Schulz tat es und erzählte ihnen nebenbei, was sie über das Restaurant ›à la world-carte‹ alles wusste. »Sein Neffe Rainer hat bei ihm hoch im Kurs gestanden, und die beiden sind immer gut ausgekommen, sofern man mit Siegfried Schulz gut auskommen kann.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Schneeganß.

»Harte Schale, weicher Kern.«

Schneeganß hatte das Gefühl, dass sie ihren Mann in Schutz nahm und aus einem Grund, den er gern gewusst hätte, nicht so krass schilderte, wie er eigentlich war. Vielleicht war es wirklich Liebe, denn immer wieder geschah es ja, dass Frauen Männer liebten, die eigentlich Kotzbrocken waren, Menschenschinder, Mörder. Trotz ihrer Liebhaber liebte sie ihren Mann, möglich war alles.

»Ja, dann werden wir mal wieder …« Schneeganß erhob sich. »Wir bleiben in Kontakt, Frau Schulz. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, dann …« Auch ihr überreichte er sein Kärtchen. »Und vor allem: Rufen Sie uns sofort an, wenn sich jemand mit einer Lösegeldforderung bei Ihnen melden sollte.«

»Selbstverständlich.«

Als sie wieder draußen im Auto saßen, sprang die Uhr auf dem Armaturenbrett auf 18.59 Uhr.

»Feierabend«, sagte Hinz.

»Denkste, wir fahren noch nach Frohnau.«

»Das ist Selbstausbeutung!«, protestierte Hinz.

»Besser Selbst- als Fremdausbeutung«, sagte Schneeganß und drehte entschlossen den Zündschlüssel herum.

 

*

 

Im ›à la world-carte‹ wurden sie vom Kellner nicht als Kriminalbeamte erkannt, was Schneeganß immer ein wenig wurmte, denn wozu sonst sorgte man im ›Tatort‹ und vielen anderen Serien seit Jahrzehnten für eine Glorifizierung seines Berufsstandes.

»Haben Sie reserviert?«, fragte der Kellner.

Schneeganß verneinte das. »Wir sind aber immer etwas reserviert.«

Trotz seiner vorzüglichen Deutschkenntnisse konnte ihm der Finne nicht recht folgen und war für einen Augenblick ein wenig verwirrt. »Mikä teidän nimenne on?«

Schneeganß lachte. »Macht nichts, wenn die Nudeln hier nicht ganz al dente sind.«

»Wie? Ich meine, wie Ihr Name ist …?«

»Mein Name sei Gantenbein«, antwortete Schneeganß, der immer wieder unter Beweis stellen musste, dass er das Abitur gemacht hatte, sogar mit einer Eins in Deutsch. »Max Frisch.«

»Entschuldigung, aber wie denn nun: Herr Gantenbein oder Herr Frisch?«

»Nein, Schneeganß.«

Nun war Matti Kemijärvi völlig durcheinander. »Haben Sie drei Namen?«

»Nein, ich heiße Gunnar Schneeganß, und ›Mein Name sei Gantenbein‹ ist der Titel eines Romans von Max Frisch.«

Der Finne freute sich. »Schön, dass man immer noch dazulernt. Aber leider ist kein Tisch mehr für Sie frei.«

»Wir wollen ja auch nichts essen, sondern nur Ihren Chef sprechen«, sagte Hinz. »Den Herrn Wiederschein.«

»Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit …?«

»In der Angelegenheit seines Onkels. Kriminalpolizei.«

Matti Kemijärvi machte große Augen. »Ist Herr Schulz …?«

»Nein«, antwortete Schneeganß. »Weder noch, weswegen wir ja hier sind. Aber wieso …?«

»Wir haben gehört, dass sein Wagen im Kanal ertrunken ist.« Matti Kemijärvi war nun so verwirrt, dass er Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache bekam. »Wenn Sie mir dann bitte verfolgen würden … Herr Wiederschein ist im Augenblick nicht in der Küche, sondern sucht oben nach einem Rezept, weil ein Gast unbedingt etwas aus Georgien will.« Der Finne führte sie in den ersten Stock hinauf und summte dabei einen Tango.

»Finnischer Tango?«, fragte Schneeganß. »Wie denn das?«

»Der ist besser als der argentinische. Sie müssen mal Harri Kaitila hören. Der ist sogar einmal bei uns aufgetreten, bei unserem finnischen Abend, wo es punajuuria etikkaliemessä, piikkikampela, piirakka und poronpaisti gegeben hat.«

Damit waren sie oben angekommen und wurden in Wiederscheins Arbeitszimmer abgeliefert. »Zwei Herren von der Kripo, die Sie sprechen wollen …«

Wiederschein saß mit dem Rücken zur Tür. Er schloss seinen Karteikasten und drehte sich mit dem Stuhl in ihre Richtung, ehe er aufstand.

»Bitte sehr, treten Sie näher … Frau Schulz hatte mich angerufen, dass Sie kommen würden … Das ist ja alles entsetzlich!«

»Hatten Sie es nicht schon im Radio gehört?«, fragte Hinz.

»Nein, tagsüber kommt keiner von uns zum Radiohören«, erwiderte Wiederschein.

Mit seiner weißen Mütze auf dem Kopf und seiner typischen Berufskleidung sah er aus wie ein Sternekoch, der sich gerade für seinen Fernsehauftritt zurechtgemacht hatte. Schneeganß, der viel für das Savoir-vivre übrig hatte, hoffte immer, einen solchen Menschen zu seinen Freunden zählen zu dürfen, weil das ungemein was hermachte.

»Dann wollen wir mal.« Auch Schneeganß war müde und wollte das Gespräch mit Wiederschein so schnell wie möglich zu Ende bringen. »Wenn Sie uns bitte einmal kurz erzählen würden, wie Ihr Onkel heute Morgen von hier losgefahren ist … Das ist er doch – oder?«

»Ja, kurz vor 5 Uhr.« Wiederschein erzählte ihnen, wie sie ihm hinterhergewinkt hatten. »Freddie, das ist mein Mann für alles, Gudrun, das ist unsere Reinemachefrau und Küchenhilfe …«

»Wie?« Hinz war erstaunt. »So früh sind die schon bei der Arbeit?«

»Ja, die wohnen in der umgebauten Waschküche und sollten ihm das Frühstück machen.«

»Das haben sie aber nicht?«, fragte Schneeganß.

»Nein, mein Onkel hat es sehr eilig gehabt. Ich dachte, er würde mit mir frühstücken, wie wir das am Abend besprochen hatten … Darum war ich selbst überhaupt so früh auf … Aber dann ist er einfach an uns vorbei, furchtbar missgestimmt …«

Schneeganß dachte laut. »Was ja darauf hindeutet, dass er einen Anruf bekommen hat … Von wem wohl?«

»Mir ist nichts bekannt, und von seinem Zimmer aus hat er niemanden angerufen. Mit dem Handy vielleicht …«

»Das kann man herausbekommen«, sagte Hinz. »Und sonst ist Ihnen nichts an ihm aufgefallen …? Hat er eine Bemerkung über mögliche Feinde gemacht, hat er sich bedroht gefühlt …?«

Wiederschein überlegte einen Augenblick. »Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Okay«, sagte Schneeganß. »Bisher ist alles offen, und Sie sind so nett und rufen uns an, wenn Ihnen etwas einfällt oder ein Anruf eingeht, der Ihren Onkel betrifft.« Auch Wiederschein drückte er sein Kärtchen in die Hand. »Ansonsten … Ich hätte gern noch einmal mit den anderen gesprochen, die Ihren Onkel am Morgen gesehen haben, wie er in seinem Porsche davongefahren ist, und anschließend einen Blick in das Zimmer geworfen, in dem er übernachtet hat.«

»Aber selbstverständlich.«

Wiederschein führte sie zu Freddie und Gudrun, die Schneeganß und Hinz die Abfahrt von Schulz in allen Einzelheiten schilderten, sie in der Sache aber nicht weiterbrachten. Schneeganß begann, sich zu langweilen.

Auch Pfarrer Eckel, der mit seinen Freunden vorn im ›à la world-carte‹ saß und tafelte, konnte nichts weiter zu Protokoll geben, als dass Schulz in seinen Porsche gestiegen und fortgefahren sei.

»Mit wehendem Mantel und seinem Borsalino auf dem Kopf«, berichtete der Pfarrer. »Ein prächtiges Bild. Ich hatte, als ich ihn so sah, gerade über meine nächste Predigt nachgedacht, bei der ich über einen Spruch Salomos reflektieren will – ›Wer eine Sache klüglich führt, der findet Glück …‹ –, und dachte so bei mir, dass es das Beste auf dieser Welt ist, mittelständischer Unternehmer zu sein. Und nun das … Wie trügerisch doch alles ist.«

»Ja, okay.« Schneeganß bedankte sich und ließ sich von Wiederschein Schulz’ Zimmer im umgebauten Pferdestall zeigen.

»Das Bett ist ja bereits gemacht!«, rief Hinz.

»Ja, das war Gudrun in ihrem Eifer. Gleich, nachdem mein Onkel weggefahren ist. Aber sie konnte ja auch nicht ahnen, dass er …«

»Nein, aber trotzdem … Ab jetzt wird hier nichts mehr verändert. Morgen rückt die Spurensicherung an.« Es war ärgerlich, dass das noch keiner veranlasst hatte, aber alle gingen wohl von einem Unfall aus und nicht wie er, Schneeganß, von einem Mord. Das hatte er so im Gefühl, dass es einer war.

»Sie haben sehr an Ihrem Onkel gehangen?«, fragte Schneeganß.

Wiederschein wurde ein wenig verlegen. »Um ehrlich zu sein: nein. Dazu war er ein, sagen wir es vorsichtig, ein zu schwieriger Charakter. Ich hoffe nicht, dass Sie mich irgendwie verdächtigen …?«

Schneeganß lachte. »Doch. Kennen Sie nicht die schöne Geschichte von Roald Dahl, wo in einem Restaurant hin und wieder ein wunderbares Fleischgericht serviert wird, unvergleichlich im Geschmack, und man nach und nach erfährt, dass immer kurz zuvor ein Mensch spurlos verschwunden ist.«

»Nein, kenne ich leider nicht«, sagte Wiederschein. »Und Sie meinen also, dass mein Onkel demnächst bei mir auf der Speisekarte stehen wird?«

»Ja, das meine ich, und darum werde ich in den nächsten Tagen immer mal wieder bei Ihnen vorbeikommen und alles kosten, was gut und teuer ist.«

»Das machen Sie mal, da freue ich mich drauf.«

Wiederschein brachte sie zur Straße und gab seiner Hoffnung Ausdruck, bald Positives vom Verbleib seines Onkels zu hören.

»Sandra Schulz und Rainer Wiederschein können wir beruhigt abhaken«, sagte Schneeganß, als sie wieder im Auto saßen. »Und wie es aussieht, müssen wir auf den erfolgreichsten unserer vielen Kollegen hoffen …«

»Auf wen?«, fragte Hinz.

»Na, auf den Kommissar Zufall.«